Stadtteil-Interview: Auf ein Wort, St. Georg!

Wer heute durch die geschäftige Lange Reihe flaniert, kann sie noch entdecken: die Spuren des alten Hamburg. Ein kleines Nähmaschinengeschäft im lehmroten Fachwerkhaus und daneben das Geburtshaus von Hans Albers in einer ehemaligen Schlachterei mit Löwenköpfen am Portal. Wenige Schritte weiter am Steindamm pulsiert das Leben mit indischen Tempeln, Moscheen und Gemüseläden dicht an dicht im Rausch der Gegensätze – ein Stadtteil mit vielen Gesichtern und interessanten Gedanken.

Liebes St. Georg, bei dir sieht man vielseitige Lebensstile und Religionen, idyllische Nebenstraßen und urbanes Treiben dicht nebeneinander – wie geht das zusammen?

Ich will ja nicht angeben, aber ich bin es seit Jahrhunderten gewohnt, mit Gegensätzen umzugehen. Bis ins 19. Jahrhundert hat man alle Einrichtungen und Handwerke, die im feinen Hamburg niemand haben wollte, bei mir abgeladen, von der Gerberei über die Schweinezucht bis zum Galgen. Das ist lange her aber ich denke, so lernt man eben, mit Herausforderungen umzugehen und Alle willkommen zu heißen. Später gab es hier nämlich auch die großen Häuser der reichen Kaufleute und eine Flaniermeile am Ufer der Alster. Außerdem waren nach der Reformation andere Konfessionen und Gottesdienste in der Innenstadt nicht mehr gern gesehen. Ein Grund, warum sich in meinen Straßen viele Moscheen, indische Tempel aber auch die katholische Kirche mit ihren Gemeinden angesiedelt haben. Bis heute leuchten sie wie ein bunter Regenbogen aus Kulturen und Religionen.

Regenbogen ist ein gutes Stichwort, denn du bist auch bekannt als das Gay Village von Hamburg oder?

Ja, schon seit den 1920er Jahren, als die Gesellschaft sich öffnete und ich durch den Hauptbahnhof nebenan zu einem Ort der Durchreise wurde. In den goldenen Zwanzigern hat die Schwulen und Lesbenbewegung sich hier eine eigene Szene aufgebaut. In den wilden 70ern wurde dann ein ganzer Lebensstil daraus und ich war ein beliebter Ort zum Ausgehen mit Kneipen und Bars wie dem Pulverfass Cabaret, die bis heute berühmt sind! Ich kann auch mit Stolz sagen, dass die schwule Community von hier aus mit bunten Demos um ihre Rechte gekämpft hat. Bis heute startet die Hamburg Pride – Parade in der Langen Reihe. Man sieht überall Zeichen der Solidarität wie den Regenbogen über der Budni-Filiale und Apotheken. Sehr solidarisch hat sich auch die Kirchengemeinde in einem traurigen Kapitel meiner Geschichte gezeigt. Als AIDS sich in meinen Straßen auszubreiten begann, richtete sie eine nicht-konfessionelle Seelsorge für alle Betroffenen ein. Das AIDS-Memorial vor der Dreieinigkeitskirche ist ein sichtbares Zeichen aus dieser Zeit.

Wow, was für eine wilde Geschichte! Trotzdem bist du heute eines der teuersten und beliebtesten Viertel von Hamburg.

Naja, ich liege auch ziemlich zentral und mitten im Leben! In unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof bin ich natürlich gut geeignet für alle, die viel Reisen und in wenigen Schritten ist man unten an der Alster am Wasser und zwischen den Bäumen.

Gleichzeitig kann man sich in der Langen Reihe von kreativen Läden wie der Papeterie Blendwerk inspirieren lassen, die es hier schon ewig gibt. Oder durch die ehemalige Manufaktur an der Koppel 66 schlendern, wo Künstler und Kunsthandwerker heute ihre Ateliers haben. Wer sich zwischen der Le Bon Brasserie und der Langen Reihe durch den sogenannten Schietbüddelgang quetscht, kann die Verdichtung mit Händen greifen: Wohnungen und Balkone werden hoch aufeinandergestapelt und liegen so dicht nebeneinander, dass man seinem Nachbarn auf den Teller schauen kann.

Sieht so deine Zukunft aus: dicht und modern mit gläsernen Fassaden für die Wohlbetuchten?

Ich hoffe nicht! Aus der Langen Reihe sind schon einige Läden fast verdrängt worden, wie der Traditionsbuchladen Wohlers Welchen Charme hätte ich noch, wenn die kleinen, traditionellen Läden aus meinen Straßen verschwinden und alles gleich aussehen würde? Auf der anderen Seite liebe ich auch das Kontrastprogramm am Steindamm, der mit den vielen türkischen und indischen Restaurants und Basaren, den Gemüseläden und dem wild gemischten Publikum wunderbar laut und chaotisch ist. Eine raue und unmittelbare Gegend, in der man den Puls der Großstadt spürt. Wenn das verloren gehen sollte weiß ich nicht, ob ich noch St. Georg heißen möchte.

 

Buchtipp

SANKT GEORG BUCH von Rainer Ahlers, Junius Verlag

Leckere Links in den Stadtteil

Café Gnosa

Café Koppel

Café Uhrlaub

Badshah Restaurant

The King of India

Frau Möller

Shoppen traditionell, künstlerisch & exotisch

Policke Herrenbekleidung

Traditionsbuchladen Wohlers

Papeterie Blendwerk

Koppel 66

Lindenbazar

Vinh-Thanh-Supermarkt

Gemütliche Gastlichkeit und literarisch im Kultursalon

Hotel Wedina

 

 

Autorin: Julia Barthel

Dank: Ein großes Dankeschön an Stattreisen Hamburg e.V. für eine kurzweilige und spannende Tour durch St. Georg!

Foto: © HAMBURGschnackt.de – Julia Barthel

21. Juni 2017 von Redaktion

Kategorien: Hamburg entdeckt, Stadtliebe

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