Gebärdenchor: Die mit den Händen singen

Gebärdenchor: Die mit den Händen singen

Es ist ein Donnerstagabend im treffpunkt.altona. Rund 30 Erwachsene und Kinder haben sich in dem Raum mit der großen Fensterfront zur Einkaufsstraße hin eingefunden. Nicht-Hörende und Hörende.

Ines Helke und ihre Kommunikationsassistentin Julia Wernicke, die sonst den Gebärdenchor „HandsUp“ anleiten, wollen mit Mitgliedern und Gästen zwei Lieder einstudieren: „AndersSEIN vereint“ und „Inklusion“ stehen auf dem Programm.

Per Beamer werden von einem Computer aus die Strophen an eine Leinwand projiziert. Julia Wernicke übersetzt Zeile für Zeile. Nicht immer entspricht eine Gebärde dem exakten Wort im Text. Einmal zeigt Julia Wernicke „begreifen“ statt „verstehen“ an. Sie sagt anschließend: „Der Inhalt ist wichtig.“

Den Begriff „schwerhörig“ lehnt Ines Helke ab

In der kommenden Stunde aber wird sich auch Ines Helke hin und wieder das Mikrofon schnappen und erklärend eingreifen. Reden, das könne sie, hat sie ein paar Tage vorher erzählt – und schelmisch dabei gegrinst. „Manchmal sogar ein bisschen viel.“

Die 44-Jährige bezeichnet sich als „hörbehindert“, als Mensch, der in zwei Sprachen lebe und kommuniziere: der Laut- und der Gebärdensprache. „Mit dem Begriff ‚schwerhörig‘“, räumt sie ein, „habe ich in meinem sozialen Umfeld schlechte Erfahrungen gemacht.“

Doch ungeachtet dessen: Wie kommt es, dass sie, obwohl sie dank einer Hörhilfsanlage zwar induktiv hören, aber Gesprochenes nicht mehr verstehen kann, weil ihr Hörvermögen in den vergangenen Jahren immer schlechter geworden ist, einen Chor leitet?

„Ich arbeite schon einige Jahre in der alsterdorf assistenz west GmbH und seit drei Jahren im treffpunkt.altona“, antwortet Ines Helke. Schwerpunkt ihrer Arbeit sei es, die Sozialraumorientierung zu unterstützen, indem sie Workshops für Kleine bis Erwachsene anbietet. „Dadurch haben wir eines Tages interessante Projekte umgesetzt. Unter anderem den Gebärdenchor.“

„Deutschland“ und „Loser“ trennt nur ein Fingerzeig

Vor dem Start hatte Ines Helke zu den Übenden gesagt: „Ich komme sofort und korrigiere. Wenn eine Gebärde nicht sauber ausgeführt wird, sage ich gleich: ‚Ich bekomme Augenschmerzen‘. Das ist so, als wenn man mit jemanden spricht, der nuschelt.“ Sie erntet für diesen Spruch einige Lacher.

Dass jemand „Deutschland“ sagt und dies so klingt wie „Loser“, scheint allerdings abwegig. Doch in der Gebärdensprache liegt zwischen beiden Begriffen nur ein kleiner Fingerzeig. Julia Wernicke demonstriert es, als im Text das Wort „Deutschland“ auftaucht.

Zuvor hat Ines Helke noch schnell zwei Stühle auseinandergeschoben. „Wenn man zu nahe sitzt, wird es schwierig mit den Gebärden“, erklärt sie währenddessen, „man muss aufpassen, dass man seinem Nachbarn nicht eine watscht.“ Gebärdensprache geht meistens von innen nach außen, ergänzt sie. Da macht der Hinweis Sinn.

„Lass einen Ruck durch Deutschland gehen“

Julia Wernicke arbeitet sich mit der Gruppe weiter durch den zweiten Text, und die Szenerie auf der anderen Seite des großen Fensters beginnt, surreal zu wirken. Menschen laufen vorbei, fahren Fahrrad, ein Pärchen küsst sich, einige Leute diskutieren offenbar. Alles in völligem Schweigen. Kein Geräusch dringt nach innen. Das Leben auf der Großen Bergstraße ist zum Stummfilm geworden.

Nur dass die Welt da draußen nicht wirklich stumm ist und hören kann – aber Menschen wie Ines Helke mit ihren Wünschen und ihren Bedürfnissen hierzulande dennoch oft auf taube Ohren stoßen.

Als Julia Wernicke die letzten Zeile des „Inklusions“-Refrains übersetzt, in der es heißt „Lass einen Ruck jetzt endlich auch durch Deutschland gehen“, tritt Ines Helke in die Mitte. „Ich möchte“, fordert sie die Gruppe auf, „dass ihr diese Bewegung mit richtigem Schwung ausführt.“ Schließlich geht es darum, sich Gehör zu verschaffen.

Bildbeschreibung: „HandsUp“-Chorleitern Ines Helke während eines Auftritts im Knust.
Autor: Markus Tischler

15. Juli 2015 von Redaktion

Kategorien: Hamburg hilft, Tatkraft

Schlagworte: , , , , ,

1 Kommentar

Kommentar hinterlassen

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Log in with your credentials

Forgot your details?