Bislang haben wir Wohlstand mit einem noch mehr gleich gesetzt: Noch mehr Leistung, noch mehr Geld, noch mehr Besitz, noch mehr Konsum. Doch angesichts der Krisen, die durch Klimaerwärmung, Ressourcenknappheit, schwindendem Wirtschaftswachstum und demografischem Wandels entstehen, kommen immer mehr Zweifel an diesen Idealen auf.
Verstellt uns also ein Wachstumswahn den Blick auf das, was eigentlich wichtig und sinnstiftend ist? Was bedeutet Fortschritt für uns eigentlich wirklich? Brauchen wir einen Green New Deal oder müssen wir in Zukunft schlicht verzichten? Und wie sieht ein gutes Leben in unserer Stadt eigentlich aus?
Das Zukunftscamp: Wie wollen wir leben?
Vier Tage lang debattierten Ökonomen, Stadtplaner, Künstler, Politikwissenschaftler und engagierte Bürger während des Zukunftscamps der Zeit Stiftung im Theater Kampnagel darüber. Denker und Macher wie der Ökonom Lord Robert Skidelsky, der Vokswirt Karl-Heinz Paqué, der Grünen-Politiker Ralf Fücks, die Schriftstellerin Juli Zeh, die ehemalige Piraten-Politikerin Marina Weisband oder der Philosoph Markus Gabriel diskutierten über den notwendigen Umbau unserer Wirtschaft, Kultur, Demokratie und Gesellschaft.
Die Zero City: Eine Stadtvision der Postwachstumsära
Städte waren und sind dabei in zunehmendem Maße die Zentren sozialer, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung. Studien zeigen, dass immer mehr Menschen in den großen Städten unserer Erde leben. Doch was passiert, wenn die fossilen Brennstoffe zur Neige gehen, das Wirtschaftswachstum zu einem natürlichen Stillstand kommt und die Menschen mehr Mitbestimmung an politischen und gesellschaftlichen Prozessen fordern?
Die Stadtplaner des Bürger-Stadt-Labors Nexthamburg haben gemeinsam mit Künstlern und engagierten HamburgerInnen im Vorfeld des Zukunftscamps ein Bild der idealen Stadt der Zukunft entworfen und während des Camps in einer Ausstellung präsentiert: Die Zero City (zerocityvision.net).
Der Name deutet es bereits an: Genügsamkeit, Selbstversorgung und -verwaltung sind in dieser Stadt der Zukunft Trumpf: Materialien und Lebensmittel können ohne fossile Brennstoffe nicht mehr von weit her eingeflogen oder herangefahren werden. Das zum Stillstand gekommene Wirtschaftswachstum erzwingt einen Umbau der sozialen Versorgung. Der Klimawandel den der Energiegewinnung.
Die 10 Thesen der Zero City
Für viele mag dies zunächst wie eine Schreckensvision klingen. »Uns ging es aber vor allem darum, die Zero als ‚Nichts‘ umzudeuten und zu zeigen, das Zero auch mehr Lebensqualität und Selbstbestimmung bedeuten kann«, so Nexthamburg-Gründer und Stadtplaner Julian Petrin während des Zukunftscamps.
Das Ende der Konsumgesellschaft kann eben auch der Anfang für ein besseres, sinnstiftenderes und freieres Leben sein. Das Motto dabei: »Null Wachstum. Null Abhängigkeit, Volle Lebensqualität«. Um das mit Leben zu füllen, entwickelte Nexthamburg zehn Thesen:
1. Fab Labs und Micro Fabriken
In der Zero City produzieren die Menschen nur noch für den eigenen Bedarf. So genannte Fab Labs, Micro Fabriken und offene Werkstätten ermöglichen es jedem, die Produkte des täglichen Bedarfs selbst zu gestalten und unter anderem über digital gesteuerte 3-D-Drucker oder Laser-Cutter selbst herzustellen.
2. Cradle to Cradle
In der Zero City sind Ressourcen äußerst wertvoll und Abfall eine unnötige Belastung. Alle Produkte sind deshalb so gestaltet, dass sie sich einfach reparieren, sinnvoll recyceln und leicht abbauen lassen. Sie folgen dem Cradle-to-Cradle-Prinzip (von der Wiege zur Wiege) des Hamburger Umweltwissenschaftlers Michael Braungart (http://epea-hamburg.org).
3. Die essbare Stadt
Urbane Gärten und die Selbstversorgung mit Lebensmitteln sichern einen wichtige Teil der Autarkie und Unabhängigkeit der Zero City. Erste Entwicklungen in diese Richtung sind bereits überall in Hamburg zu beobachten, wie das folgende Video zeigt.
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4. Das regenerative Kraftwerk
Die Zero City ist zudem auch ein regeneratives Kraftwerk. Wasser, Strom und Wärme werden zu hundert Prozent direkt in der Stadt erzeugt und verbraucht. Erste Modell-Projekte der Internationalen Bauausstellung in Wilhelmsburg zeigen, wie das aussehen kann.
5. Die Share Economy
In der Zero City wird geteilt, was sich teilen lässt: Autos, Werkzeuge, Elektrikgeräte… Produkte wandeln sich vom Statussymbol zum nützlichen Gegenstand, Eigentum wird von Besitz abgelöst.
6. Die 20 Stunden Woche
Arbeit wird in der Zero City gerecht verteilt: Der Erwerbsarbeit gehen die Menschen deshalb auch nur noch 20 Stunden in der Woche nach.
7. 10 Stunden für das Gemeinwohl
Daneben widmen sich die Menschen der Zero City aber auch zehn Stunden pro Woche der gemeinnütziger Arbeit und entlasten damit den Sozialstaat, der sich aufgrund des rückläufigen Wirtschaftswachstums nicht mehr finanzieren lässt wie bislang.
8. Grundsicherung
Alle Menschen sind finanziell abgesichert. Sie erhalten ein Bürgergeld, das an keinerlei Bedingungen geknüpft ist. Die Bürokratie sinkt, die Achtung der Menschenwürde nimmt zu.
9. Privat- und Gemeinschaftsraum
Nicht nur Dinge und Arbeit werden zunehmend geteilt, sondern auch Raum: Auf jeden Quadratmeter privatem Wohnraum kommen in der Zero City zwei Quadratmeter gemeinschaftlich genutzter Raum.
10. Die mobile Stadt
Die Mobilität basiert in der Zero City nicht auf dem Auto und langen Fahrstrecken, sondern auf kurzen Wegen und öffentlichen Verkehrsmitteln. So kommt jeder in gleicher Zeit oder sogar schneller in die Ziele seines Alltags: Den Arbeitsplatz, die Einkaufsmöglichkeiten, die Sport- und Freizeiteinrichtungen etc.
Die dunkle Seite der Zero City
»Hinter jeder dieser Regelns steckt auch eine dunkle Seite, ein Zwang, ein Verzicht«, betont Julian Petrin. Zwar hat er während der Forschungsarbeit für die Zero City die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen mit der Vorstellung von einem besseren Leben vor allem mehr Zeit, Bescheidenheit und weniger Konsum verbinden. Doch sicher können sich nicht alle damit identifizieren. Wichtig sei daher: »Was wollen wir erreichen? Und was sind wir bereit, dafür aufzugeben?«, so Petrin.
Um hierbei einen offenen Prozess mit hoher Beteiligung aller zu ermöglichen, ist die Zero City kleinteilig gestaltet. »Sie ist ein Haufen von Zellen, die sich selbst verwalten«, erklärt Petrin. Denn in kleinen Einheiten lassen sich schneller und leichter Gemeinsamkeiten finden und Entscheidungen treffen. Dinge wie Grundversorgung und Sicherheit müssten jedoch nach wie vor übergreifend sicher gestellt werden. Die Entwickler der Zero City stellen sich dabei baumartige Etagendörfer vor, wie sie das Modell in dem Bild oben zeigt: Sie ermöglichen das konzentrierte und Ressourcen schonende Leben in der Zero City.
So ist die Vision der Zero City auch eine ambivalente. Die Idealstadt der Zukunft stellt die Menschen vor die große Herausforderung der permanenten Suche nach Balance: Der Balance zwischen Autarkie und Abschottung, gemeinsamen Idealen und Sektierertum, Verzicht und Lebensqualität. Nexthamburg will die in der Ausstellung gezeigten Erkenntnisse zur Zero City auf jeden Fall in ihre konkrete Quartiersplanung einbeziehen.
1. Oktober 2013 von RedaktionKategorien: Hamburg forscht, Wissensdurst
Schlagworte: Essbare Stadt, Postwachstumsära, Selbstversorgung in der Stadt, Stadt der Zukunft, Stadtplanung, Wie wollen wir leben, Zero City, Zukunftscamp