St. Pauli war nie nur ein Ort des Vergnügens, sondern immer auch des Verbrechens. Reverent Roosen führt Besucher an die Tatorte.
Es ist dunkel, ein kalter Wind weht um die Ecke. In der Talstraße bleibt Reverend Roosen vor einer Toreinfahrt stehen. Genau hier ist es passiert: In der Nacht des 4. August 1993 treffen fünf Revolverkugeln Bahri Berisha, der stirbt auf diesem Hinterhof in seinem eigenen Blut. Der Albaner-Clan kennt keine Geduld, wenn es um Spielschulden geht. Der brutale Mord war eine Warnung an alle anderen säumigen Zocker auf dem Kiez.
Es ist die erste Station auf einem Rundgang der besonderen Art durch St. Pauli: Die Krimi-Tour folgt den Spuren des Verbrechens. Ihr Leiter Reverend Roosen trägt schwarz und spricht mit leicht schwäbischem Akzent. Bürgerlich heißt der hochgewachsene Mann Ekkehart Opitz. Er ist in Hamburg geboren, aber seine gesamte Jugend hat er in Süddeutschland gelebt. Seit 1995 lebt der Betreiber der Webseite Reeperbahn.de wieder in Hamburg. Zehn Besucher nehmen heute an der Führung teil, die meisten kommen aus der deutschen Provinz.
Die Hinrichtung in der Talstraße lässt Opitz erst einmal sacken. An der nächsten Ecke darf sein Publikum raten, welches das häufigste Verbrechen auf dem heutigen Kiez ist. – „Raub?“, wagt sich eine Bielefelderin. Roosen muss kurz schmunzeln: Nein, auch Mord nicht. Er berichtet von Klauen, Stibitzen, Taschendiebstahl und nennt Zahlen, die keine Polizei bewältigen kann.
Bei der Krimi-Tour führt Ekkehart Opitz aber nicht nur an die Schauplätze von Straftaten. Er schildert auch die Lokalgeschichte – erklärt, warum sich vor dem alten Stadttor im 17. Jahrhundert eine „räudige Vorstadt“ bildete, die einmal der Kiez von St. Pauli werden sollte.
An der Schmuckstraße beschwört Roosen das kleine Chinesenviertel herauf: Wäschereien und Opiumpfeifen, untereinander verbundene Kellersysteme. Wenn ein Chinese hier ein Haus betrat, kam er nie wieder heraus und blieb für Beobachter verschwunden. Denn er verließ die Gebäude einfach fünf Türen weiter.
Auf der anderen Seite der Reeperbahn geht es um die großen Revierkämpfe im Rotlicht-Milieu: Um die Nutella-Bande, die in den 1980er Jahren zusammen mit der Zuhältergruppe GMBH das Milieu beherrschte, um den Zuhälterkrieg, der 1986 mit der Ermordung des Staatsanwalts Bistry durch den Kiez-Killer Mucki Pinzner das Ende des alten St. Pauli einläutete.
Reverend Roosen steht auf dem Hans-Albers-Platz wirft Schlaglichter auf die Schlüsselszenen, scherzt und gestikuliert. Oft schlüpft er kurz in die Rolle eines Protagonisten. Es wirkt, als ob er Zeuge all dieser Räuberpistolen gewesen wäre.
Woher hat er all diese Geschichten? „Das beste Material kommt aus alten Büchern.“ Auch historische Fotografien seien sehr aufschlussreich. Vor allem spricht Ekkehart Opitz, der selbst mitten im Kiez wohnt, gelegentlich mit den „alten Recken“. Aber von denen gebe es kaum noch welche auf St. Pauli.
Am Hamburger Berg hat Opitz dann doch noch Grauenhaftes parat. Schilderungen von Säcken voller entstellter Frauenleichen. Ihren späteren Mörder lernten diese Opfer gleich hier im Elbschlosskeller kennen. Der Name des ehemaligen Stammgastes und Serienmörders: Fritz Honka.
Derweil feiern Gruppen von Kieztouristen auf der Straße, ein Bier in der Hand, lachend. Sie haben keine Ahnung von den menschlichen Abgründen, an deren Rändern sie ihren Samstagabend feiern.
Autor: Hilmar Schulz
Bildbeschreibung Titelfoto: Ekkehart Opitz führt in der Gestalt von Reverent Roosen an die schauerlichen Orte von St. Pauli.
Kategorien: Hamburg erinnert, Stadtliebe
Schlagworte: Albaner-Clan, Ekkehart Opitz, Elbschlosskeller, Fritz Honka, Kiez, Nutella-Bande, Reeperbahn.de, Reverend Roosen, Schmuckstraße, St. Pauli