Drei Minuten Jonathan: Fremdes Deutschland

Mit großen Augen sehe ich mich staunend um. Erstmals nach einem halben Jahr betrete ich wieder ein Restaurant. Was geht? Wie muss ich mich verhalten? Auch die Menschen neben mir orientieren sich. Es ist, als wären wir alle nach einem langen Schlaf in einer anderen Welt erwacht.

Fröhliche Gespräche an allen Tischen

Ein Restaurant hat geöffnet. Keine Selbstverständlichkeit mehr. Um das zu erleben, musste ich bis nach Schleswig-Holstein fahren. Der Lohn: Ich darf mir draußen selbständig einen Platz suchen. Mein Aufenthalt ist an keine Bedingungen geknüpft. Die Bedienung ist freundlich. Ich bekomme ein Getränkt und ein Essen. Wie bestellt. Fröhliche Gespräche an allen Tischen. Ein Aufatmen – so kommt es mir vor.

Als ich später durch den Ort gehe, sind Cafés, Museen und sogar die Kirchen geschlossen. Ein paar Leute sitzen auf einer Bank und teilen sich Pizza. Dem Karton nach von einem Lieferdienst. Nur wenige sind trotz des guten Wetters unterwegs.

Ein misstrauisch beäugter Tourist

Deutschland ist mir fremd geworden. Aus dem Land der Dichter und Denker wurde ein Land der Regeln und Lenker. Woraus ein unglaubliches Chaos entsteht. Wenn ich zum Beispiel in Hamburg spazieren gehe, wundere ich mich häufig, weshalb die Straßen und Wege an sonnigen Tagen erstaunlich leer sind. Des Rätsels Lösung lautet: Im Umland dürfen die Geschäfte öffnen.

Wer aus dem Haus geht, muss vorher Regeln studieren. Wo darf ich zu welchen Bedingungen einkaufen? Wo haben Restaurants geöffnet? Selbst im Freien sind manche Wege gesperrt, weil Menschen sich zu nahe kommen könnten. Ich kenne mich nicht mehr aus in diesem Land und bewege mich wie ein misstrauisch beäugter Tourist durch Straßen und Geschäfte.

Der Reiseführer für Deutsche

Mein Vorschlag: Wir brauchen einen Reiseführer, der uns Einheimischen Deutschland erklärt. Natürlich sollte er mehrmals täglich aktualisiert werden. Ideal wären Tipps, was bei einer Reise in ein anderes Bundesland zu beachten ist. Muss ich mir mein eigenes Essen mitnehmen oder finde ich dort Verpflegung? Wie sieht es mit Übernachtungen aus? Ist Joggen erlaubt? Mit wie vielen Menschen darf ich maximal zusammenkommen? Eine Mammutaufgabe für einen Autor. Ähnlich dem Reiseführer „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams. Vermutlich sollte auch bei einer Reise durch das neue Deutschland jede/r ein Handtuch dabeihaben.

Fremd fühle ich mich aber auch, weil Sitten und Gebräuche sich verändern. Händeschütteln oder eine Umarmung zur Begrüßung? Abgeschafft. Wer kurz hustet entschuldigt sich sofort mit „Kratzen“ im Hals. Sogar ein kleiner Plausch am Straßenrand ist nicht mehr willkommen. Die Liste wird länger. Ich frage mich, was davon bleibt und wohin uns das führen wird.

Vielleicht recke ich bald meinen elektronischen Daumen in die Luft und lasse mich per Anhalter auf einen anderen Planeten mitnehmen. Bizarrer als derzeit in Deutschland, kann es dort kaum sein.

 

Warum drei Minuten, Jonathan?

Übersicht aller Themen dieser Kolumne.

Und hier geht es zu dem aktuellen Buch des Hamburger Schriftstellers David Jonathan.

 

 

 

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Foto/Grafik: © David Jonathan/photolab

12. Mai 2021 von Redaktion

Kategorien: Hamburg liest, Kulturgenuss

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