Mein Hamburg: Ute Nerge

Was lieben die Hamburger an ihrer Stadt – und was nicht? Was bewegt ihr Leben und was wollen sie bewegen? Menschen erzählen über ihre Leidenschaften, Lieblingsorte und ihr Leben in unserer Metropole. Wir fragen: Ute Nerge, Initiatorin und Leiterin vom Kinder-Hospiz Sternenbrücke

Kindern zu helfen, war für Ute Nerge schon immer eine Herzensangelegenheit. Viele Jahre hat sie als Kinderkrankenschwester gearbeitet. Dann wagte sie sich an ihre größte Herausforderung und gründete das Kinder-Hospiz Sternenbrücke in Rissen. Als erstes Haus in Norddeutschland und eines von inzwischen fünfzehn Kinderhospizen in Deutschland ist es ein Ort der Unterstützung für Familien mit lebensbegrenzt erkrankten Kindern, eine Zuflucht, die Lebensqualität und einen Abschied in Würde gleichermaßen ermöglicht.

Das Kinderhospiz ist inzwischen 15 Jahre alt. Was hat sich durch die Einrichtung in Hamburg verändert?

Häufig kommen Besucher das erste Mal mit großer Unsicherheit zu uns, denn sie wissen nicht, was sie erwartet. Meistens verlassen sie uns dann mit einem ganz anderen Lebensgefühl. Gerade jetzt, wo es noch einmal so unverhofft warm wurde, planschen auf der Terrasse Kinder. Die Rasensprenger sind an. Einige Kinder laufen durch, andere fahren mit dem Rollstuhl. Die Kinder lieben das. Es gibt so viel Leben und Freude hier. Das vermuten die wenigsten in so einem Haus. Es ist wunderschön zu sehen, wie viel Lebensqualität die Kinder bekommen, wie viel Freude sie haben und wie sehr die Eltern es genießen, ihre Kinder lachen zu sehen. Das sind irgendwann wertvolle Erinnerungen, auch für die Geschwister.

Wie kamen Sie auf die Idee, ein Kinderhospiz zu gründen? Gab es Vorbilder?

Es gab nur ein Hospiz für Kinder mit Stoffwechselerkrankungen in Olpe, das betroffene Eltern gegründet haben. Mir schwebte aber ein Haus vor, das Kinder mit allen lebensbegrenzenden Krankheiten aufnehmen kann, anders als Kliniken, in denen in Spezialabteilungen unterteilt wird. Das ist eine große Herausforderung, denn hier bringen die Kinder unterschiedliche Erkrankungen mit, darunter auch seltene, die kaum erforscht sind. Die Idee, ein Kinderhospiz zu gründen, entstand aus meiner Arbeit als Kinderkrankenschwester. In der Klinik betreute ich unter vielen Kindern Jenny, ein neunjähriges Mädchen, das ich sehr ins Herz geschlossen hatte. Sie wuchs bei der Großmutter auf, und ich fragte mich, was geschieht mit Jenny, wenn die alte Dame die Pflege nicht mehr leisten kann. Ich erfuhr dann von unserem Chefarzt, dass sie in ein Erwachsenenhospiz käme, Kinderhospize gäbe es nicht. Dass es für solche Kinder keine Hospize gab, darüber hatte ich mir als Schwester auf einer Kinderchirurgie noch nie Gedanken gemacht. Als mein Chefarzt lächelnd sagte, „Sie können ja eins bauen“, setzte sich die Idee in meinem Kopf fest.

War Ihnen klar, auf was Sie sich einlassen?

Ich hatte keine Kenntnis davon, wie man Spenden sammelt, einen Förderverein gründet oder welchen gesetzlichen Rahmen es gibt. Aber ich hatte eine konkrete Vorstellung davon, wie ein Kinderhospiz sein sollte, weil ich wusste, was diese Kinder für ihren Alltag brauchen, welche Probleme es in der Häuslichkeit gibt und welche Unterstützung die Eltern benötigen. Vor allem wollte ich kein Haus, das die Kinder nur am Lebensende betreut, sondern eines, das die Familien von der Diagnosestellung an, auf dem langen Weg oft über viele Jahre professionell und liebevoll begleitet. Es gibt geschätzt 55.000 Kinder, die in Deutschland lebensbegrenzt erkrankt sind. Wenn die Eltern ihre Kinder nicht mehr selber pflegen können, gibt es für die Kinder keine Lösung. Darum brauchen wir Orte, an denen die Eltern immer wieder Kraft schöpfen, um ihre Kinder weiter pflegen zu können und um auch einmal Zeit füreinander und für die Geschwisterkinder zu haben.

Haben Sie denn schnell Unterstützung für das Projekt bekommen?

Jenny habe ich oft zu Hause besucht und dort auch ihren Pflegedienst kennengelernt, der die Familie zu Hause unterstützt hat. Peer Gent war der Geschäftsführer des Pflegedienstes. Er hörte von meiner Idee und wollte mithelfen. Wir haben unterschiedliche Schwerpunkte und Stärken in unserer Arbeit. So ergänzen wir uns bis heute hervorragend. Wir konnten mit Unterstützung von Isabella Vértes-Schütter und Annegrete Stoltenberg 1999 den Förderverein gründen.

Wie erlebten Sie die Anfänge?

Wir bezogen am Rödingsmarkt ein ganz kleines Büro mit einem gespendeten PC, der immer wieder defekt war. Ich erinnere mich, dass Isabella Vértes-Schütter, inzwischen Vorstandsvorsitzende der Stiftung, dort manchmal mit uns auf dem Fußboden saß, weil wir nicht genug Stühle hatten. Ganz klein, ganz bescheiden waren die ersten Schritte. Schon der erste Artikel im Hamburger Abendblatt half unserer Idee ganz wunderbar. Für mich war es eine große Herausforderung, in der Öffentlichkeit zu stehen und mit Presse und Fernsehen umzugehen. Bei meinem ersten ungeplanten öffentlichen Auftritt hatte ich sehr weiche Knie. Achthundert Frauen waren zum Weltgebetstag der Frauen in die Jakobikirche gekommen. Als ich  um einen Besuch gebeten wurde, hatte ich keine Vorstellung davon, was mich erwarten würde.

Was ist Ihnen bei dieser Arbeit besonders wichtig?

Inzwischen haben wir im Kinder-Hospiz Sternenbrücke sechshundert Familien betreut und 172 Kinder in der Sternenbrücke verloren. Es geht darum, die Familien zu stärken, ihnen eine Möglichkeit zu geben, Kraft zu schöpfen und auch mal mehr Zeit für die Geschwisterkinder zu haben. Die stehen oft in der zweiten Reihe, weil das erkrankte Kind immer Vorrang haben muss. Die Angst und Sorge um das kranke Kind bringt die Familien immer wieder an ihre Grenzen. Sie benötigen Menschen an ihrer Seite, die mit ihnen diesen schweren Weg gehen.

Der Tod ist immer nah, wie geht man damit um?

Das geschenkte Vertrauen der Familien ist ein großes Gut. Den Kindern ein angemessenes Umfeld, liebevolle und professionelle Pflege zusammen mit großartiger ärztlicher Hilfe anbieten zu können, ist für mich ein großes Geschenk. Allerdings ist es keine Aufgabe, die man nur Montag bis Freitag, neun bis siebzehn Uhr machen könnte. Wir können die Kinder leider nicht gesund machen, aber wir können ihren Weg so gestalten, dass er mit Lebensqualität gefüllt ist, möglichst schmerzfrei in einem behüteten Umfeld. Das gilt für die Kinder, aber auch für die Geschwisterkinder und die Eltern. Das ist eine große Aufgabe. Es tun zu können, hinterlässt jeden Tag in mir eine große innere Ruhe und stille Freude.

Wie wurde die Einrichtung von den Hamburgern aufgenommen?

Die Hamburger sind uns bis heute sehr zugewandt. Am Anfang gab es Berührungsängste, aber auch gleich großes Interesse. Inzwischen kommen 3.000 bis 4.000 Besucher jedes Jahr zu unserem Tag der offenen Tür am 1. Mai. Die Menschen möchten unsere Arbeit kennenlernen. Sie stellen ganz offen Fragen und setzen sich damit auseinander. Die Reemtsma-Stiftung hat zu Beginn der Sternenbrücke eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben und uns die ersten fünf Jahre unterstützt. Das war eine unglaubliche Hilfe. Wir dürfen nicht nachlassen, weiter um Spenden zu bitten, um diese Arbeit fortführen zu können. Besonders berührt mich die Anteilnahme von Schulklassen oder Spendenbitten bei Taufen und Hochzeiten. „Unsere Kinder“ werden jetzt in die „Mitte“ genommen. Kinder engagieren sich für Kinder – ist das nicht wunderbar? In letzter Zeit gab es sogar sehr viel Interesse aus dem Ausland, aus Kopenhagen, Norwegen, Schweden, Vancouver und Boston, wo es solche Einrichtungen auch noch nicht gibt. In Japan wollen sie unser Haus nachbauen. Überall wird den Kindern und Familien jetzt besser geholfen. Eine große Freude erfüllt uns, wenn wir das hören.

 

Wie sind Sie überhaupt zu diesem Beruf gekommen?

Meine Mutter behauptet, ich hätte schon als kleines Kind andere gepflegt und umsorgt. Ich wollte eigentliche Hebamme werden. Kinder sind für mich immer ein Geschenk. Wenn sie schwer krank sind, muss man sich besonders um sie kümmern. Mein Mann, der vor 5 Jahren verstorben ist, hat diese Einstellung mit mir geteilt, und auch mein Sohn tut das. Bei diesem Beruf muss man Menschen mögen und wertschätzend und aufmerksam mit ihnen umgehen. Mit der Haltung unserer Gesellschaft gegenüber den Pflegenden war der Fachkräftemangel absehbar. Auch wir merken diese Entwicklung. Dennoch haben wir in unserem Haus großartige Mitarbeitende, die mit ganzem Herzen für die Familien da sind.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Was könnte die Stadt tun?

Das Fehlen von behindertengerechten, barrierefreien Wohnungen ist ein großes Problem. Die Familien brauchen dieses Umfeld, um ihre Kinder pflegen zu können. Breite Türen, Fahrstühle, durch die ein Kinderwagen oder Rollstuhl passt, bodengleiche Duschen und vieles mehr. Das gilt für jeden Menschen, der körperliche Einschränkungen hat. Immer mehr Menschen benötigen diesen durchdachten Wohnraum, der auch bezahlbar ist.

Wenn Sie dann doch einmal Freizeit haben, an welche Lieblingsorte zieht es Sie?

Ich bin eine waschechte Hamburgerin – meine Familie lebt hier seit vielen Generationen – und ich bin ein absoluter Hagenbeck-Fan. An Weihnachten sind wir Kinder mit meinem Vater morgens in den Zoo gegangen, um die Tiere zu bescheren. Damals durfte man sie noch selber füttern. Das war ein Ritual, das mein Vater später mit meinem Sohn fortführte. Nun haben mein Sohn und ich diesen Brauch wieder aufgenommen. Ich bin auch gerne am Hafen, komme aber leider viel zu wenig dort hin. Das Hamburger Platt, wie es meine Mutter noch spricht, höre ich furchtbar gerne, bedeutet für mich Heimat – bedeutet Hamburg.

Haben Sie ein Lebensmotto, Lieblingszitat, Lieblingsschnack?

Mein Umfeld sagt, mit „geht nicht“, dürfe man mir nicht kommen. Probleme erkennen und nach einer Lösung zu suchen, das bin ich. So sind zum Beispiel ein Karussell und eine Schaukel für Kinder mit Rollstuhl entstanden. Ein Tannenbaum auf einem Podest, damit die Kinder mit Rollstuhl auch die umkreisende Eisenbahn sehen und anfassen können. Oder gebaute höhenverstellbare Esstische. Um diesen Familien zu helfen, braucht es nur einen Kopf, ein Herz und zwei Hände – und das haben wir alle. Geht nicht – gibt‘s nicht!

 

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Autorin: Herdis Pabst
Fotos: © Kinder-Hospiz Sternenbrücke

19. September 2018 von Redaktion

Kategorien: Hamburg hilft, Mein Hamburg, Tatkraft

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1 Kommentar
  1. Rose-traute Hsrtmsnn 5 Jahren her

    Tolle Idee gewesen dieses Kinder-hospitz Sternenbrücke zu gründen.
    CHAPEAU

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