Symphonie in Müll

Ein grauer Sonntag im Winter. Mit Kamera und Frau mache ich mal wieder einen Spaziergang in der Stadt. Ja, wir gehen auch in den weniger attraktiven Stadtteilen umher, denn in Hamburg ist es überall schön. Als wir an einer unansehnlichen Kreuzung inmitten einer Wohnsteppe auf Grün warten mussten, fiel mir der Mülleimer am Ampelmast auf. Weniger war es sein unappetitlicher Inhalt als seine äußere Erscheinung, die meine Aufmerksamkeit erregte.

Die Aufschrift »Stille Eimer sind tief« – von der Stadtreinigung zur Aufforderung seiner Inanspruchnahme als auch zur allgemeinen Erheiterung installiert – war kaum noch zu entziffern. Der von weitem noch rötlich wirkende Plastikbehälter war übersät mit Farbklecksen, Aufklebern, Dellen und Sprayspuren. Ich konnte mich kaum sattsehen am Farben- und Formenspiel und all den unwichtigen Informationen.

Die Sache mit den Mülleimern: Wie alles begann

Meine Frau war schon mindestens zwei Ampelphasen zuvor auf die andere Seite gegangen. Ich winkte ihr zu, sie möge doch schon vorgehen. Aber sie wartete (sie wartet meistens auf mich, wenn ich fotografiere). Ich achtete nicht auf die Passanten, die mir verständnislos zusahen, wie ich den Mülleimer von allen Seiten ins rechte Licht zu rücken versuchte. Ein kleiner Junge fragte seinen Vater, was der Mann denn da mache.

Schließlich entschied ich mich, den Mülleimer genau frontal auf Bauchnabelhöhe zu fotografieren. Noch ein paar Schüsschen zur Sicherheit und rüber zur Gemahlin. Schon wieder Rot, Mist. Aber drüben auf der anderen Seite war ja noch ein Mülleimer. Tatsächlich, auch dieser Abfallbehälter strahlte einen gewissen Reiz aus. Schon etwas routinierter wanderten wieder einige Fotos auf die Speicherkarte. Die beiden waren die ersten in einer langen Reihe.

Foto-Satire aus Hamburg: Symphonie in Müll von Bernd Nasner

Vom Müll zur Kunst

Seit ich jeden Mülleimer fotografiere, der gefällt und mir vor die Linse kommt, weiß ich: Auf Hamburgs Ascheimern kommt jeder zu Wort – und gänzlich ungestraft. Nicht nur mit pfiffig humorvollen Sprüche, die mit augenzwinkernder Leichtigkeit die Nutzung der sonst eher langweiligen Plastikboliden zu einem Spaß machen sollen. Nein, von Werbeschildern mit Internet-Adressen oder privaten Hilferufen (Katze entlaufen) bis hin zu Demonstrationsankündigungen oder Lebenshilfe im Allgemeinen finden sich eine Vielzahl von meist unwichtigen Aussagen.

Sie alle helfen ein Kunstwerk zu schaffen. Viele bedeutende Kunstwerke wurden mit deutlich weniger Aufwand und in sehr viel kürzerer Zeit von erheblich weniger Künstlern fertig gestellt. Wir haben es hier mit Gemeinschaftsarbeiten unterschiedlichster Mitwirkender zu tun, die ganz individuelle Methoden zur Gestaltung anwenden und so zum Gelingen beitragen.

Mal ist es ein im Vorübergehen weggeworfener Döner, dessen Flugbahn die kleine Öffnung des Mülleimers knapp verfehlte – und der nach seiner Landung Kohlreste hinterlässt, die sich am Rand des Loches festkrallen, während die Mayonaise langsam über einen verblichenen Aufkleber der Piratenpartei sickert.
Ein andermal ist es der grobe Tritt eines zornigen Radfahrers, der – vom Autofahrer übersehen – seiner Wut an dieser Stelle Ausdruck verliehen hat. Oder auch die Kippe, die im Innenraum für einen Schwelbrand mit anschließender Plastikschmelze sorgt, und so ein deutliches Zeichen der Veränderung setzte.

Foto-Satire aus Hamburg: Symphonie in Müll von Bernd Nasner

Über Müllkunstepochen

Diese Arbeiten können ihren Reiz aber auch erst durch die Hilfe äußerer Einflüsse, wie Regen, Wind, Sonne, Abgase und biologischer Prozesse ganz entfalten. Ein Biotop aus Moosen, Flechten und bakteriellen Kulturen findet nach und nach Halt zwischen angerissenen Papierrändern und klebrigen Müllresten. Sie bilden die Basis für neuen Humus und neues Leben, neue Kunst.

Auch Mitarbeiter der Stadtreinigung tragen zu diesem laufenden Prozess mit bei. Sie entfernen immer wieder Inhalte oder tragen mit schroffem Werkzeug neue Farben und Narben auf. Bis ab und an die Eimer nach einem geheimnisvollen Plan und in einer Nacht und Nebel-Aktion ausgetauscht werden. Dann warten gereinigte oder neue Papierkörbe sauber, unschuldig und knallrot auf ihre unbekannte Designer. Doch selbst die zum Teil ganz neuen Müll-Sprechblasen können nicht darüber hinwegtäuschen: Kunstwerke, die Generationen von Künstlern über Jahre geschaffen haben, sind unwiederbringlich verloren.

Rettet die Müllkunstwerke

Und so war sie da, meine sinnvolle Lebensabschnittsaufgabe: Ich rette die Mülleimer-Kunstwerke für die Nachwelt. Im Laufe der Jahre trug ich so unzählige Müll-Kunstwerke unter teils schwierigen Bedingungen zusammen. Häufig war ich dem Hohn und Spott der Passanten ausgesetzt. Einige Mülleimer traf ich nach Jahren wieder. Ich erkannte sie sogar an ihren besonderen Eigenheiten.

Eigentlich mag ich nur die Körbe, die oben rund sind wie ein Torbogen, die eckigen und auf dem Boden stehenden fallen nicht mehr in mein Beuteschema. Es sei denn, sie haben etwas umwerfend Besonderes. Auf der Internetseite der Hamburger Stadtreinigung (stadtreinigung-hh.de) sind nur noch die neuen eckigen Körbe im Angebot, dafür aber mit allen Sprüchen und gänzlich sauber und unverklebt.

Ich hoffe, einen kleinen Beitrag zu leisten, damit unsere Kinder, Enkel und Nachkommen später einen Eindruck gewinnen, welche Bedeutung der Müll kurz nach der Jahrtausendwende in Hamburg für seine Bürger hatte. Vielleicht gibt es später gar keinen Müll mehr und keine Eimer. Würde da nicht etwas fehlen in unserer Stadt.

Allen Fotofreunden allzeit »gut‘ Licht« wünscht Bernd Nasner.

Portrait: Bernd Nasner Über den Autoren:
BERND NASNER

Bernd Nasner ist Inhaber des Photohaus an den Colonnaden, in dem es hochwertige Fotoapparate und -ausrüstung aus zweiter Hand gibt. Daneben ist Bernd Nasner selbst aktiver und passionierter Hamburg-Fotograf und hat eine Sammelleidenschaft für historische Hamburg-Fotos, die er auf seiner Themenseite vorstellt.
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3. Dezember 2015 von

Kategorien: Hamburg wohnt, Stadtliebe

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2 Kommentare
  1. Donata Pawlik 5 Jahren her

    Dieses Mülleimer-Thema finde ich genial. Regt mich an in Berlin zur Tat zu schreiten.
    Ich fotografiere auch „merkwürdige“ Dinge: Gullydeckel, Toiletten usw.
    Es macht so unwahrscheinlich Spaß Dinge im Alltag zu entdecken, an denen man normalerweise vorbeigeht.
    Viele Grüße aus Berlin von Donata Pawlik

  2. Eva Nerling 3 Jahren her

    Schade, dass nun das Eckige das Runde verdrängt… Das Modell mit der VW-Rückscheiben-Optik 1953 war das eigentlich kultige.

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